Rückkehr nach [Lake Travis]

(Eribon als Vorlage für die eigene Selbstuntersuchung)

Will ich mit meiner Herkunft brechen? Sie verleugnen? Wenn ja, wieso? Und wäre
das überhaupt möglich? Die Stärke Didier Eribons Textes Rückkehr nach Reims liegt vor
allem darin, dass Eribon diese Fragen für sich selbst untersucht, dann aber die Untersuchung
veröffentlicht, und dabei eine Vorlage präsentiert, die die eigene (d.h., die des Lesers)
Auseinandersetzung mit seinen Fragen ermöglicht. Im Geist dieser Stärke werde ich sowohl
Eribons Text als auch verschiedene andere Texte verwenden, um Fragen der eigenen Her- und
Zukunft zu untersuchen. Eribons zentrale These ist im Grunde die, dass wir uns regelmäßig
täuschen, indem wir das Gehorchen von gesellschaftlichen Normen als solches vernebeln,
doch auf andere Art und Weise rechtfertigen, dass wir genau das machen, was die
Gesellschaft von uns verlangt. Also werde ich, wie Eribon, versuchen, den verborgenen
Einfluss der Gesellschaft wieder ins Licht zu bringen.

Eventuell führt das zu allgemeinen Fragen von Herkunft und Zukunft, doch da meine
Beziehung zu der eigenen Herkunft so eng mit meinem Deutsch-Studium verknüpft ist,
erscheint als erster vernünftiger Ausgangspunkt die Sprache. Man sieht die Spannung
zwischen mir und meiner Herkunft ganz klar darin, dass ich immer lieber Deutsch als
Englisch spreche, und vor allem, weil ich vom Gespenst des eigenen—d.h.,
amerikanischen—Akzents immer wieder heimgesucht werde. Natürlich ist es einfach, die
Besessenheit mit der eigenen Aussprache so zu verstehen, als ein völlig persönliches
Bedürfnis, das seine Wurzeln im Perfektionismus findet; doch nach Eribon sollte ich
versuchen, nach dem potenziellen gesellschaftlichen bzw. zwischenmenschlichen Druck
dahinter zu suchen.

Erstens suche ich diesen vernebelten Einfluss in der Wahlheimat, in Deutschland. Ich
habe ja nicht angefangen, so einen Schwerpunkt auf der Aussprache zu setzen, bis meine
Anreise hierhin. (Und da gesellschaftliche Strömungen am klarsten zu sehen sind, wenn man
sich umblickt, ist die Untersuchung in der unmittelbaren Umgebung auch ein vernünftiger
Ausgangspunkt). Ich müsste also die Frage stellen, ob jetziger zwischenmenschlicher Druck,
oder eine vorgestellte Form davon, dazu beiträgt, dass ich in meiner sprachlichen Arbeit so
sehr auf meinen Akzent fokussiere. Natürlich kommt als erste die Möglichkeit, dass dieser
Druck mit realen oder imaginären Vorurteilen über Amerikaner in Zusammenhang steht: in
der jetzigen Welt hat das offensichtliche Amerikanersein ja klare Nachteile. Amerikaner seien
faul, dumm, politisch und kulturell zurückgeblieben, heißt es. Natürlich möchte man nicht
damit assoziiert werden, und von daher ergibt es Sinn, den Akzent zu verschleiern. Es entsteht
ein Schamgefühl, wie Eribon schreibt, bei dem man die Vorurteile von anderen Menschen
internalisiert, und in den „sozialen Schrank“ eintritt (2016: 20). Nichtsdestotrotz haben sogar
negative Vorurteile positive Wirkungen: wenn von einem „blöden Ami“ bloß nichts erwartet
wird, ist es zum Beispiel umso einfacher, neue Bekannten mit den Sprachkenntnissen zu
beeindrucken—also müsste man vielleicht weiter nach dem Kern des Problems suchen.
Es genügt auch nicht, den amerikanischen Akzent als solcher zu vernebeln; sogar mit
einem unspezifischen aber offensichtlich nicht-deutschen Akzent wäre ich nicht zufrieden.

Vielleicht liegt das Problem also darin, dass ich einfach Deutsch sein will; diese These erklärt
sogar auch, warum ich mich so gerne Teile von deutschen Dialekten aneignen. Es macht
Spaß, für einen Deutscher gehalten zu werden; hinter dem Bedürfnis, akzentfrei zu sprechen,
finden wir die Sehnsucht nach Zugehörigkeit in und zu einer Gesellschaft, in der Deutschsein
eng mit der Sprache verbunden ist. Wie Schulze in der Kleinen deutschen Geschichte
schreibt, entstand die deutsche Nation zuerst aus einem sprachlichen Milieu, nicht aus einem
politischen; und die Folgen davon sind heute noch zu sehen (1998). Deutscher Rapper Edgar
Wassers Lied „Deutschsein“ stellt diesen sprachlichen Schwerpunkt noch klarer dar, als er
rappt, „Und tu nicht so als ob dir die deutsche Sprache so wichtig ist / Was willst du, ein
Koran in altdeutscher Schrift?“ (2010). Der deutsche Ausschluss von türkischen Immigranten
und später von Flüchtlingen aus anderen Ländern des Nahen Osten wird über Mittel der
Sprache rechtfertigt; Fragen von Deutschsein, Ausländersein, und Zugehörigkeit werden
immer wieder unmittelbar mit der Sprache verbunden.

Doch von hier aus können wir über die Sprache hinausgehen, und allgemeinere Fragen
über Herkunft und Zukunft unter die Lupe nehmen. Warum hatte ich daran so viel Freude, als
ein Freund mir einst sagte, ich sei nicht „Ami komisch“? Warum diesen Drang, die Heimat
hinter mir zu lassen? Die Antwort finden wir, glaube ich, wieder in Hinsicht auf Deutschsein
beziehungsweise Nicht-Amerikanersein. Wenn wir fragen, warum jene Sehnsucht nach
Zugehörigkeit, die meine Besessenheit mit meinem Akzent auslöste, mich nach Deutschland
brachte, wird natürlich klar, dass ich dieses Gefühl von Zugehörigkeit eben nicht in der
Heimat gefunden habe. Hier wende ich mich an Heinrich Heine, dessen Gedichte über
deutsche Heimatlosigkeit mich sogar in New York erreichte. Bei Heine geht es nicht darum,
ein Land, das einem nicht gefällt, zu verlassen; Deutschland bleibt das Vaterland, und sein
Gesamtwerk ist von der Sehnsucht danach geprägt. Seine Gedichte gehen vielmehr darum, ein
Land, das gewissermaßen die geliebte Heimat bleibt, aufgrund der Entfremdung davon
verlassen zu müssen. Dieses Thema wird im Gedicht „In der Fremde“ ganz klar dargestellt: in
dem Land zu bleiben, das einen verneint, obwohl es immerhin Vaterland ist, wird
unerträglich, und das schöne Vaterland, das man einst hatte (oder zu haben glaubte), wird als
Traum enthüllt (2017: 355). In diesem Kontext fühlt man sich, als hätte man gar keine Heimat
mehr. Heine beschreibt im Gedicht „Jetzt wohin?“ am besten:

Traurig schau ich in die Höh
Wo viel tausend Sterne nicken –
Aber meinen eignen Stern
Kann ich nirgends dort erblicken.
Hat im güldnen Labyrinth
Sich vielleicht verirrt am Himmel
Wie ich selber mich verirrt
In dem irdischen Getümmel. (585)

Die Heimat der Geburt muss also von einer Wahlheimat (für Heine, Paris) ersetzt werden,
weil man in der vorigen keine Zugehörigkeit mehr findet. Bei Heine bleibt es jedoch unklar,
ob dieser Ersatz jemals die grundlegende Isolierung überwinden kann.
Diese Unsicherheit steht auch mit der Frage in Zusammenhang, ob man die Herkunft
verleugnen muss, um das eigene Leben zu gründen, bzw. ob man die eigene Herkunft
überhaupt hinterlassen kann. Für Eribon ist die Antwort ganz klar: „Die Spuren dessen, was
man in der Kindheit gewesen ist, wie man sozialisiert wurde, wirken im Erwachsenenalter
fort, selbst wenn die Lebensumstände nun ganz andere sind und man glaubt, mit der
Vergangenheit abgeschlossen zu haben“ (2016: 12). Doch diese Behauptung ist nicht so
eindeutig, wie es zu scheinen mag. Denn Eribon findet es auch möglich, obwohl auch
unbehaglich, sowohl im Herkunftsmilieu als auch in der Wahlheimat anzugehören (12). Ich
bin mir doch nicht so sicher, ob es prinzipiell Unbehagen verursachen müsste, in zwei Welten
Wurzeln zu haben. Zunächst wenn man sich fühlt, als gehörte man der Heimat an, aber nie
dazu, ist es schon berechtigt, sich eine Wahlheimat auszusuchen, in der auch Zugehörigkeit zu
finden ist. In dem Fall, finden wir uns im Zustand von Mareike Beykirch und Johannes Maria
Schmit, die im Stück Hier bin ich geboren die Suche nach Zugehörigkeit so beschrieben: „es
ist die Sehnsucht nach einem Ort, der einem sehr an Zuhause erinnert, aber trotz allem auf
keinen Fall Zuhause ist“ (2018).

Literaturverzeichnis
Beykirch, Mareike, und Johannes Maria Schmit. Hier bin ich geboren: Ein Heimat- und
Liederabend von und mit Mareike Beykirch und Johannes Maria Schmit. Aufführung 3
März 2018, Maxim Gorki Theater, Berlin.
Eribon, Didier. Rückkehr nach Reims. Aus dem Französischen von Tobias Haberkorn. Berlin:
Suhrkamp Verlag, 2016. Buch.
Heine, Heinrich. Sämtliche Gedichte: Kommentierte Aufgabe. Herausgegeben von Bernd
Kortländer. Ditzingen: Reclam Verlag, 2017. Buch.
Schulze, Hagen. Kleine deutsche Geschichte. München: dtv Verlaggesellschaft, 1998. Buch.
Wasser, Edgar. „Deutschsein.“ In The Edgar Wasser Freetrack Collection. Veröffentlicht
2010. MP3.

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